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Canticum canticorum
Weinbeeren schäumen,
Duftende Narde[1]
Überschwemmt schwer die Gärten ––
Ich hütete mit meinen Brüdern die Herden
Auf einem sonnigen Platz –
Deshalb bin ich braungebrannt;
Es rauscht die Granatnacht.
Von gelben Sternen
Blutrot äschert sich der Himmel ein.
Die feurigen Augen verberge ich
In der Wimper ein Kiefernwald,
Wie Teiche in Hesbon[2].
“Oh meine Liebe, öffne ––
Ich habe den Garten umrundet ––
Und eine lockere Rose in den Locken
Wiederhole mir Deinen Mund
Damit ich erneut errate
Ob Du den Apfel vom Abend getrunken hast” ––
“Wie soll ich Dir aufmachen
Die knarrende Tür ––
Wenn ich die Kleider ausziehe
Verfluchen die Mütter mich dreifach
Und Ziegenherden
geben keine süße Milch”.
Die granatfarbene Nacht rauscht
Und die schwankenden Weintriebe
Und die Feigenblätter ––
Und ich kann überhaupt nicht einschlafen.
Ich sperre die Holztore auf ––
–– Aber der Liebste war verschwunden.
Der Duft von Safran und Kassie[3].
Das Öl lief aus
Und Myrrhe tropft auf die Klinke.
Die Spur verschwimmt langsam
Wie eine aufgetrennte Naht ––
Schwarzäugige Dämmerung hinter der Laube.
Ich habe ihn gesucht –– hab ihn nicht gefunden.
Ich habe ihn gerufen
– Aber er hat mir überhaupt nicht geantwortet.
(Aber er ist schön wie ein Stern
Wie die Tiefe des Himmels ––
Also erkennt ihn jeder).
Ich verfluche Euch Jungfern in Düften
Durch Rehe im Dickicht,
Durch eine wie ein Anschlag plötzliche Hirschkuh:
Sucht nicht die Liebe beizeiten
Weckt sie nicht auf,
Solange sie nicht von selbst zu Euch kommt
NARDE:
Die Indische Narde ist eine Nutz- und Heilpflanze aus dem Himalaya, die schon in der Antike bis in den Mittelmeerraum exportiert und zur Zubereitung kostbarer Öle und Salben verwendet wurde. Q: https://de.wikipedia.org/wiki/Indische_Narde ↩HESBON:
Antike Stadt östlich des Jordan-Flusses ↩KASSIE:
Vermutlich die Zimtkassie, aus der Cassiazimt, auch bekannt als Gewürzrinde, gewonnen wird ↩